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Gedanken zu Hannah Arendt

Gesendet im SWR Radio 2006    

Dieses Jahr feiern wir wieder berühmter Menschen runde Geburtsjahre und Todesjahre. Das Mozartjahr überstrahlt alle anderen großen Geburtstage. Der Dichter Heinrich Heine ist vor 150 Jahren gestorben. Und vor 100 Jahren ist die Philosophin Hannah Arendt am 14.Oktober geboren. Über sie möchte ich etwas nachdenken. Aber wir haben noch mehr runde Jubiläen dieses Jahr. Vor 410 Jahren ist der Rationalist Rene Descartes geboren, der sicherlich von den Franzosen gefeiert wird. Ob sie auch die Philosophin Simone de Beauvoir feiern, die vor 20 Jahren gestorben ist? Und dann haben wir natürlich Siegmund Freuds 150. Geburtstag und können auf Hör-Cd´s seine Texte von Schauspielern vorgelesen bekommen.

Der Philosoph Martin Heidegger ist seit 30 Jahren tot und abends im Fernsehn finden wir Sendungen über den Fall Heidegger. Seine Schülerin Hannah Arendt überlebte ihn nicht. Sie starb ein Jahr früher als er, obwohl sie 17 Jahre jünger war als er. Sie starb mit 69 Jahren, er mit 77 Jahren. Beide lebten für ein philosophisches Leben nicht lang. Philosophen werden oft sehr viel älter als ihre Mitmenschen, so sagt man. Hans Gadamer ist über 100 Jahre alt geworden. Und da ist  Wilhelm von Humboldt, der Vater unserer vielbeschworenen humanistischen Bildung. Er  erblickte vor 230 Jahren das Licht der Welt, aber er starb auch schon 59 Jahre später. Vielleicht stimmt es gar nicht, dass Philosophieren jung hält?

Vor genau 200 Jahren wurde mein Lieblingsphilosoph John Stuart Mill geboren, ob die Engländer ihn feiern? Aber auch er wurde gerade mal 83 Jahre alt. Wenn ich mein Philosophielexikon so durchblättere, dann sehe ich, dass die meisten Philosophen und Philosophinnen keine 80 Jahre alt werden. Das erstaunt mich nun genauso, wie damals, als ich für ein Buch nachschaute, welche Philosophen verheiratet waren. Selbstverständlich nahm ich an, dass sie fast gar nicht verheiratet waren, weil sie meistens ein einsames heroisches Leben in ihren Werken favorisieren. Aber die Fakten sprachen anders. Knapp über die Hälfte waren verheiratet. Und jetzt werde ich scheinbar wieder durch neue Fakten belehrt und muß ein Vorurteil über Bord werfen. Viel Denken ist wahrscheinlich doch nicht die beste Methode, gesund sehr alt zu werden.

Max Stirner, der radikale Ich-Denker, wird dieses Jahr auch 200 Jahre alt, aber er starb schon mit 50 Jahren.

Vielleicht entstand das Vorurteil, dass Philosophen sehr alt werden, weil wir mit Philosophen alte bärtige Männer assoziieren, so wie sie uns von altgriechischen Standbildern anschauen. Tatsächlich wurde Sokrates 70 Jahre alt und hätte wohl noch länger gelebt, wenn er nicht den Giftbecher genommen hätte. Und sein Schüler Plato erreichte immerhin 80 Lebensjahre. Aristoteles mit 72 Jahren galt in seiner Gesellschaft auch als sehr alt. Die meisten Menschen damals starben vor dem 35. Lebensjahr.

Und sogar der immer kränkelnde Kant wurde 78 Jahre alt, weil er gut mit seinen Krankheiten umging. Für frühere Verhältnisse ist das ein hohes Alter, aber auch damals und später starben die meisten Philosophen um ihr 60. Lebensjahr.

Wir kennen heute 100 jährige Jubilare, nicht nur im Showgeschäft, auch unter Schriftstellern und Philosophierenden. Karl Popper wurde immerhin über 90 Jahre alt und war bis zum Schluß geistig sehr aktiv. Hans Gadamer habe ich schon erwähnt und dann den umstrittenen Schriftsteller Ernst Jünger, der auch seinen 100. Geburtstag feierte.

Aber sie sind Ausnahmen, so wie es wohl in fast allen Berufsbereichen diese altgewordenen wachen Menschen gibt. Und in der Zeitung stehen immer wieder Berichte über 100 jährige Menschen. Die meisten hatten ein einfaches normales Leben, keine exponierten Philosophen.

Aber es heißt doch, dass Frauen älter werden als Männer. Gibt es vielleicht mehr Philosophinnen, die ein hohes Alter erreicht haben? Simone de Beauvoir und Hannah Arendt zählen nicht dazu. Aber vielleicht andere? Ich schaue in mein Speziallexikon über Philosophinnen.

Aspasia, die Lehrerin des Sokrates wurde nur 60 Jahre alt. Vor 570 Jahren starb die italienische Medizinerin und Philosophin Dorothea Bucca mit 76 Jahren. Die schwedische Königin Christine von Schweden, die sich von Renè Descartes unterrichten ließ und ihm so ein gutes Gehalt bescherte, kam vor genau 380 Jahren zur Welt, wurde aber nur 63 Jahre.

Ich finde zwar auf den ersten Blick mehr Philosophinnen, die über 70 Jahre alt geworden sind, aber auch viele, die schon früher starben, nur nicht ganz so zahlreich, wie bei den Männern. Aber Hochbetagte gibt es dort etwas mehr als unter den männlichen Kollegen.  Das kann auch daran liegen, dass die Männer in Kriege ziehen mussten, aber andererseits starben auch Philosophinnen im Kindbett, wie Madame de Châtelet, die Newton übersetzte und vor 300 Jahren geboren wurde. Sie wusste schon während der Schwangerschaft, dass sie bei der Geburt sterben würde und arbeitete so lange sie konnte an ihrem Newtonwerk. Sie und Voltaire, der Vater ihres Kindes, mussten sich damit abfinden, dass sie mit 43 Jahren inmitten ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Schaffensperiode, sterben würde. Das Kind überlebte ebenfalls nicht. Voltaire überlebte seine große Liebe noch über 30 Jahre.

Aber ich bin vom Thema abgekommen. Ich wollte eigentlich zum 100. Geburtsjahr von Hannah Arendt gedenken. Sie war gerade 69 Jahre jung, als sie starb. Viel jünger, als viele Philosophinnen vor ihr. Auf Fotos sehen wir sie oft mit Zigaretten. Sie war Kettenraucherin. Die Zigarette in den schnippsenden Fingern einer Frau galt noch bis zu ihrem Todesjahr 1975 als Symbol von Freiheit und Eigenwilligkeit. So wollte sie erscheinen. Wie steht es so sinnig auf den heutigen Zigarettenschachteln? Rauchen kann Ihr Leben verkürzen.

2.

Dieses Jahr ist nicht nur das Mozartjahr, das Freudjahr und das Jahr von Heinrich Heine. Es ist auch das 100. Geburtsjahr von Hannah Arendt, der Philosophin, die sich nicht Philosophin nennen lassen wollte. Sie bestand darauf, Denkerin genannt zu werden, oder Politikwissenschaftlerin.

Die großen Ideen seien mit der Naziideologie alle fragwürdig geworden und kippen schnell in gewaltbereite Ideologien über. Sie hatte Abschied genommen von den großen weltentwürferischen Gesten der Philosophie und sah sich als eine Intellektuelle, die nur verstehen wollte, was ist, mehr nicht.

Wir kennen Hannah Arendt zumeist als politische Denkerin. Als Kritikerin deutscher Geschichte und wie sie angesichts des Eichmannprozesses von der „Banalität des Bösen“ schreibt. Dafür wurde sie angegriffen, schließlich war Eichmann ein großer Naziverbrecher. Aber es hatte sie erstaunt, wie normal er dachte, wie wenig er reflektierte, wie wenig mit Absicht alles für ihn geschah. Wie gedankenlos er war. Normal, banal – das Böse. Kein charaktervoller Bösewicht, wie in den klassischen Tragödien zu finden ist.

Aber darüber möchte ich nicht weiter denken. Das ist alles schon oft diskutiert worden.

Ich habe Hannah Arendt für mich als Philosophin entdeckt. In Zeilen, als sie sich tatsächlich selber als Philosophin outete. In ihrem letzten Werk über das Leben des Geistes. Dieses letzte Werk, an dem sie bis zu ihrem Tod schrieb, wird fast gar nicht erwähnt, wenn es darum geht, über Hannah Arendt zu sprechen. Es ist wie fast immer in ihren Büchern, schwer zugänglich zu lesen. Keine leichte Kost, obwohl sie in den USA lehrte und dort das philosophische Schreiben und Vortragen viel alltagssprachlicher und allgemeinverständlicher gehandhabt wird als bei uns.

Sie war stolz auf ihre europäische humanistische Bildung, zitierte Lateinisch und Altgriechisch ohne zu übersetzen und empfand wohl ähnlich wie Theodor W. Adorno jene als Halbgebildete, die damit nichts anfangen konnten.

Vielleicht ist ein Hintergrund dafür auch, dass ihre Mutter diese Bildung nicht erhalten hatte, die sie aber an anderen Menschen bewunderte. Sie zog ihre Tochter Hannah größtenteils allein auf und unterstütze deren Lernbegier und Sprachbegabung. Sie war stolz auf die humanistische Bildung ihrer Tochter, die schon in der Pubertät die alten Griechen im Original las und sich mit Kants Schriften befaßte.

In der bürgerlichen Schicht der Jahrhundertwende um 1900 galt die humanistische Bildung als Eingangsbillet in die Kreise der Juristen, Professoren und Mediziner. Arendts Mutter entstammte den Kaufmannskreisen und sehnte sich nach Höherem.

Dabei gab es damals nicht und später auch nicht, ein gewachsenes Bildungsbürgertum in Deutschland. Was in anderen europäischen Ländern üblich war, fehlt uns bis heute: Stolz auf unsere Intellektuellen, Kultur und Öffentlichkeit für Bildungsinhalte. Wer französisches oder belgisches Fernsehn kennt, Talkshows dort und diese vergleicht mit dem, was in Deutschland üblich ist, kann mitvollziehen, was Hannah Arendt und ihre Generation der aus Deutschland emigrierten Intellektuellen in den USA beklagten. Halbbildung im Vergleich zu dem, was um 1900 in Deutschland als Ideal der Bildung galt.

Aber auch in Deutschland war nicht wirklich, was als ideal galt. Es war nicht umsonst ein Ideal. 1848 sind die Freien Geister erschossen worden oder ins Exil geflohen, 1933 ebenfalls. Diesen Exodus an intellektuellem Leben haben die anderen Länder nicht sich selber zugefügt. So gibt es Bildungssehnsüchte mit deutscher Tradition, die auf andere merkwürdig verschroben wirken und vielen gar nicht mehr nachvollziehbar sind.

Hannah Arendt kommt so mentalitätsmäßig aus dem Bildungsaufbruch um 1900 und das war die kreativste intellektuelle Zeit, die Deutschland je hatte.

Aber ich bin vom Thema abgekommen.

Hannah Arendt blieb bis ins hohe Alter der Stolz ihrer bildungssehnsüchtigen Mutter und pflegte ihre humanistische Bildung in jedem Vortrag, in jedem Text.

Das betone ich nur, weil ich in meinen philosophischen Zirkeln immer wieder erlebe, wie die Leute beim Lesen von Arendts Texten aufstöhnen und ihr Borniertheit und Arroganz vorwerfen.

Es stimmt, Arendt liebte das Volk nicht, sah sich nicht als Aufklärein des Volkes. War ihr doch das Volk in Deutschland eher unheimlich und angsterregend geworden. Massenkriterien blieben ihr ein Leben lang fremd. Sie glaubte an die einzelne Persönlichkeit, die Freiheit des Einzelnen, egal was auch geschieht.

Darum war sie auch gegen den Vorwurf einer Kollektivschuld an das deutsche Volk. Nein, jeder einzelne Mensch ist verantwortlich. Kein Kollektiv, kein Volk, keine Gruppe.

Und hier ist sie ganz Philosophin. Sie glaubt an die Selbstbestimmungsmöglichkeit des einzelnen Menschen mittels seiner Gedankenfähigkeit. Und wenn so jemand wie Eichmann kein bisschen Phantasie und Gedankentätigkeit dafür aufwendet, um nachzuvollziehen, was mit Menschen geschieht, deren Schicksal er entscheidend beeinflusst, dann ist er ganz allein verantwortlich für diese Gedankenlosigkeit, nicht sein Führer, nicht seine Vorgesetzten. „Keiner hat das Recht zu gehorchen“, schrieb sie.

Aber ich bin wieder vom Thema abgekommen. Es geht um sie als Philosophin. Das inspiriert mich, da will ich weiterdenken. Und das ist noch etwas anderes.

3.

Dieses Jahr ist am 14. Oktober der 100. Geburtstag von Hannah Arendt. Von ihrem Studium her war sie eine Philosophin, aber später wehrte sie sich dagegen, Philosophin genannt zu werden. Denkerin wollte sie sein, Politikwissenschaftlerin. Die Philosophie mit den großen Entwürfen schlägt viel zu schnell in Ideologie um, wie sie meinte und erinnerte an die Nazizeit.

So wird ihr Werk denn auch hauptsächlich politisch besprochen. Aber am Ende ihre Lebens kam sie doch wieder zurück zu dem, was sie einst als junge Frau zur Philosophie motiviert hatte. Und hier inspiriert mich Hannah Arendt als Philosophin, nicht so sehr als Kritikerin politischer Handlungsdimensionen.

Ihr Freund aus jungen Studientagen, der Philosoph Hans Jonas, schrieb später über sie: „Ich habe mein Teil in politischer Theorie getan“, sagte sie mir. „Genug damit; von nun an und für was mir noch verbleibt, will ich mich nur noch mit transpolitischen Dingen abgeben“ – was heißt: mit Philosophie... Jetzt im Alter sei die Zeit da – das Selbstvertrauen, die lang geschulte Bereitschaft, die Freiheit von Sorge um Gelingen oder Scheitern, Beifall oder Tadel der Welt - , um endlich die letzten Themen anzugehen, die in den fernen Tagen unserer Jugend uns undeutlich vor Augen schwebten, als wir, mehr getrieben als gezogen, den Weg der Philosophie betraten. Mit der unfeierlichen Ausdrucksweise, die zwischen uns üblich war, kamen wir überein: „Jetzt geht`s um die Wurst“.

Im Alter erst, als es nicht mehr um Profilierung ging, erinnerte sich Hannah Arendt zurück an ihre ersten Motive, als sie Philosophie studierte und sich für Philosophie begeisterte.

Im Alter knüpfte sie wieder an ihre Jugendthemen an, nachdem sie das politische Leben auf Umwege gebracht hatte, so, wie es häufig passiert.

Und jetzt ging es um die Wurst. Jetzt oder nie. Jetzt musste sie outen, warum ihr doch am philosophischen Dasein etwas liegt. Warum sie doch Philosophin war, trotz all der politischen Theorien und Bedenken.

Leider wird ihr letztes Werk, ihre letzte Vorlesungsreihe, an der sie bis zu ihrem Tod gearbeitet hatte, nur selten erwähnt, obwohl es als Buch erschienen ist.

Sie nannte es „Das Leben des Geistes“. Und wie für ihren Lehrer Aristoteles war dieses Leben des Geistes in seiner tiefsten Vollendung kein Leben im politischen Raum mit anderen Menschen. Das Leben des Geistes findet mit sich selber statt, allein mit sich selbst. Dieses Denken mit sich selbst hat keine politische Bedeutung. Sie schreibt: „Daß ich, solange ich lebe, mit mir selbst leben können muß, dieser Gedanke tritt politisch nicht in Erscheinung...“

Das Denken, das Philosophieren ist eine innere Tätigkeit, die ich nur tun kann, wenn ich mit mir allein bin, konfrontiert mit mir selbst.

Dieses Alleinsein ist für Arendt eine Grundvoraussetzung des Denkens, des Philosophierens, des Leben mit sich selbst.

An dieser Stelle ist sie unerbittlich. Ein Mensch, der nicht allein sein kann und die Gesellschaft mit sich selbst nicht sucht, denkt nicht. So ein Mensch lässt andere für sich denken und folgt anderen, ist weder frei noch selbständig.

An dieser Stelle kann es enttäuschte Fragen geben von denen, die zum ersten Mal mit dieser klassischen philosophischen Forderung nach Alleinseinkönnen konfrontiert sind. Wer ist denn heutzutage schon gern und freiwillig allein?!

Sind wir nicht schon viel zu einsam in dieser vermassten Gesellschaft, in der jeder, der oder die ein bisschen anders ist als die anderen, isoliert da steht? Gibt es nicht auch ein Denken gemeinsam mit anderen, wenn ich z.B. in der Küche die Kartoffeln entspannt schäle, während die Kinder in Hintergrund friedlich spielen und der Mann seine Zeitung liest? Da bin ich doch auch allein mit mir und kann über alles mögliche nachdenken.

Und macht das Philosophieren nicht am meisten Spaß, wenn man in einer Runde zusammen sitzt und alle so richtig grundsätzlich werden?

Das alles hat nichts mit dem zu tun, was Hannah Arendt meint, wenn sie das Leben des Geistes meint.

Sie meint nicht, dass wir einsam sein müssten, um zu philosophieren. Alleinsein und Einsamkeit ist nicht dasselbe. Einsamkeit ist unfreiwillig, ungewollt. Alleinsein ist der bewusste zeitweise Rückzug von den anderen, um einmal mit sich selber zu sein, sich als reflektierendes, suchendes und sinnfindendes Wesen zu erfahren. Sich aussetzen dem eigenen Wesen.

Das Denken ist für sie die Quintessence des Lebendigen. Erst wenn in mir selber eigenständiges denkendes Leben ist, bin ich auch nach außen lebendig, voller Einfälle und immer auch selbstverantwortlich. Ich bin aus mir selber da, aus meiner eigenen Quelle des Seins.

Dabei gesteht sie durchaus zu, dass es ein Leben ohne dieses eigenständige Leben gibt. Sie schreibt: „Ein Leben ohne Denken ist durchaus möglich: es entwickelt dann sein eigenes Wesen nicht – es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht recht lebendig. Menschen, die nicht denken, sind wie Schlafwandler.“

Ahrendt sieht dabei auch, dass es nicht nur gefährliche Gedanken geben kann, die Revolutionen und Staatsumstürze verursachen können. Denken selber ist gefährlich, weil es keine gesicherten Wahrheiten für alle Ewigkeiten zulässt. Sie erklärt: Denken heißt praktisch: jedes Mal, wenn man in seinem Leben auf eine Schwierigkeit stößt, muß man neu überlegen.

Alle Glaubensbekenntnisse werden in Frage gestellt, alle Wissenszusammenhänge neu kombiniert.

Die überraschend leichte Umerziehung damals nach 1945 in Deutschland konnte sie nicht trösten. Wie konnten aus Nazis so schnell Demokraten werden? Aber wo keine wirklich eigene persönliche Gedankenwelt ist, braucht es nicht eine tiefwandelnde Umerziehung. Die innere Leere war Voraussetzung für den Wiederaufbau.

4.

Wenn Hannah Arendt noch leben würde, wäre sie jetzt im Oktober 100 Jahre alt geworden. Es gibt inzwischen viele Menschen, die über hundert Jahre alt werden. Sie ist gefühlsmäßig für mich eigentlich noch eine Zeitgenossin, obwohl sie seit 31 Jahren tot ist. Denn sie könnte noch leben.

In ihrem letzten philosophischen Werk über das Leben des Geistes fragt sie, welchen Sinn es haben soll, überhaupt noch zu philosophieren und zu denken, nachdem sich all die großen philosophischen Antworten als Unsinn herausgestellt haben. Weder ist ein Gott philosophisch beweisbar noch können wir nach all dem neuen Wissen der Naturwissenschaften einfach große Weltwahrheiten ausdenken und an sie glauben. Die Zeit der Metaphysik und Philosophie ist vorbei.

Trotzdem fragt Hannah Arendt in ihrem späten Werk, ob es nicht doch einen eigenen Sinn geben könnte, zu philosophieren, auch wenn große Wahrheiten damit nicht einsehbar sind.

Alle Traditionen des Denkens haben sich als begrenzt erwiesen, als unrichtig und lebensuntauglich. Also können wir unbelastet von Traditionen neu zu denken beginnen. Aber wozu sollten wir das tun?

Gedankenlos zu leben und zu tun was alle tun, ist doch auch eine gute Möglichkeit. Wozu die Anstrengungen, sich selber über alles Gedanken machen zu müssen? Haben uns da nicht die vergangenen Philosophen und Philosophinnen überstrapaziert?

Sie schreibt: „Unsere Situation nach dem Abtreten der Metaphysik und Philosophie könnte einen doppelten Vorteil bieten.“ Wir könnten unbelastet unsere gesamte menschliche Vergangenheit neu sehen lernen und zweitens die uralte Unterscheidung von den Vielen und den Denkern des Gewerbes, wie die Philosophen sich bisher verstanden, aufgeben.

Nach Hannah Ahrendt ist das Philosophieren ab sofort keine Tätigkeit einer bestimmten elitären Klasse mehr, sondern eine Fähigkeit, die bei allen Menschen gleichermaßen entwickelt sein sollte.

So hat z.B. unser Denkvermögen etwas mit unserer Fähigkeit zu tun, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Und das müssen wir ständig tun, unabhängig davon, ob es große philosophische oder metaphysische Wahrheiten gibt oder nicht. Ob etwas gerecht ist oder nicht, das müssen wir ständig entscheiden, das wird uns nicht abgenommen. Und wenn das richtig ist, schreibt sie, dass das „Denkvermögen etwas mit der Fähigkeit zu tun hat, Recht und Unrecht zu unterscheiden, dann müssten wir ihre Anwendung von jedem normalen Menschen verlangen können, gleichgültig, wie gebildet oder unwissend,

intelligent oder dumm er zufällig ist.“

Das Denken darf nicht länger den Spezialisten überlassen bleiben wie es bei der  höheren Mathematik ist. Philosophieren zur Entwicklung einer eigenen Urteilskraft muß für alle Menschen zur Grundausbildung und Erziehung gehören.

Das Schlimmste für Hannah Arendt ist die Gedankenlosigkeit, mit der viele Menschen handeln, darum kann überhaupt Unrecht geschehen. Als sie den Nazi Eichmann im Prozeß beobachtete, war sie am meisten über seine Gedankenlosigkeit entsetzt. Sie glaubt, wenn jeder Mensch mehr selber denken würde beim eigenen Handeln, dann wäre unsere menschliche Geschichte friedlicher. Nur: wer gehorcht denkt nicht selber nach.

So hat das Philosophieren den Sinn, sich Orientierung zu verschaffen in den vielen Möglichkeiten ethisch sinnvoll zu handeln. Ohne dem wären wir Automaten oder Schlafende, wie sie schreibt.

Der philosophische Glaube von Hannah Arendt betrifft nicht ein außermenschliches umfassendes Wesen, so wie ihr Lehrer Karl Jaspers seinen philosophischen Glauben beschrieb, sondern die Menschen selber. Und das ist der große Unterschied zur Tradition. Wir Menschen selber müssen unsere Intelligenz weiter entwickeln und an uns glauben. Ohne diesen Glauben an das Humane selbst seien wir als Menschen nicht in der Lage, unser Leben auf Erden ethisch zu verbessern. Denn die vergangenen großen Glaubensinhalte, seien es Gott oder Weltgesetz oder was auch immer Großartiges, gehören nach Hannah Arendt der vergangenen Geschichte an.

Philosophieren oder Denken ist dabei die beste Methode, ein verantwortliches menschliches Leben zu führen.

So hätten wir zwar keine großen Orientierungen mehr, die außerhalb von uns leuchten und unsere Wege bestimmen. Aber das heißt nicht, dass wir Menschen deshalb im gedankenlosen Bösen versinken müssten.

Es geht nun in der neuen scheinbar orientierungslosen Zeit für die einzelnen Menschen darum, Urteilkraft zu entwickeln. Zur Urteilskraft gehört ein selbständiges Denkenkönnen und das heißt für Hannah Ahrendt: Abstand nehmen können während der Situation, in die ich verwickelt bin. Ich urteile  dann wie eine Zuschauerin oder wie ein Zuschauer, der das Ganze überblickt und nicht nur sich selber erlebt. Dieses Ziel sollten wir beim Urteilen anstreben und dazu braucht es Gedankenkraft. Indem ich mich frage: Was passiert hier eigentlich und welche Rolle nehme ich ein, will ich das überhaupt und passt das zu meinem inneren Werteverständnis, nehme ich Abstand und urteile über das, was ich erlebe. Erst danach entscheide ich, wie ich mich wieder in die Situation involviere und konkret handle.

Das Denken nimmt uns sozusagen immer wieder heraus aus dem bloßen gedankenlosen Erleben und funktionieren und dadurch ist es fruchtbar und gibt uns Orientierung.

5.

Hannah Arendt wäre in diesem Jahr im Oktober 100 Jahre alt geworden. Darum möchte ich einem Gedanken ihres letzten philosophischen Werkes nach denken, der für sie das Letzte war, was sie als Philosophin dachte und worin sie sich auch als Philosophin zeigte. Dieses sich zeigen ist besonders kostbar, weil sie eigentlich dafür bekannt ist, dass sie sich nicht als Philosophin benennen lassen wollte. Sie wollte Denkerin oder Politikwissenschaftlerin genannt werden. Aber in ihrem letzten Vorlesungszyklus „Vom Leben des Geistes“ bekannte sie sich als eine, die zur Philosophie gehört und das Denken selber thematisierte. Sie tat es mit der Frage, welchen Sinn das Denken noch haben kann für uns Menschen, wenn so viel Falsches wie die vergangene Metaphysik und Philosophie dabei heraus gekommen ist.

Was ist das Besondere am Denken, weshalb es auch wegen seiner Irrtümer nicht abgeschafft werden kann?

Wir können noch so sehr fordern, uns nur auf Fakten zu beziehen und auf Gesetze, das reicht nicht aus, um als Menschen zu existieren.

Immer wieder werden wir durch unsere Denkfähigkeit dazu verführt, etwas anderes zu denken, als das, was uns in der Realität als wirklich erscheint, was die Fakten sind. Ob es ein Träumen, Phantasieren oder wildes Behaupten ist, ob es Lügen ist oder ein Glauben , wir machen dabei die Erfahrung, dass wir uns etwas denken können, was in der Realität der materiellen Welt überhaupt nicht existiert.

Wir übersteigen mit unserer Denkfähigkeit ständig die Grenzen unserer Realitätserfahrung. Wir träumen von Wesen, die wir nicht mit wachen Augen sehen. Wir phantasieren uns Zukünfte, die völlig anders sind als das, was wir als Gegenwart erleben.

Die Existentialisten wie Karl Jaspers, Jean Paul Sartre und auch Simone de Beauvoir nennen das die Erfahrung der Transzendenz. Das lateinische Wort trancedere heißt „hinüberschreiten“, oder „überschreiten“. Wir überschreiten mit unserem Denkvermögen ständig unsere realen Erfahrungsmöglichkeiten.

Ein Kind sagt z.B.: „ich bin heute Nacht über unser Haus geflogen“ und kann nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Das Träumen kann sich sehr real anfühlen und löst sogar physiologisch im Körper ähnliche Prozesse aus wie es ein reales Erleben tun würde. Die gleichen Hormone werden im Gehirn ausgeschüttet, ob es Stresshormone sind oder Glückshormone. Wir wachen glücklich auf oder tottraurig und wissen oft nicht einmal mehr, was wir geträumt haben. Oder wir sehen im Film eine tragische Abschiedsszene und weinen. Unser Gehirn kann vom Gefühl her nicht zwischen Film und Realität unterscheiden.

Die Ursache für diese verschiedenen Varianten des realen und irrealen Erlebens

sieht Hannah Arendt in unserem Denkvermögen, das sich Vorstellungen machen kann auch unabhängig von dem, was wir real erleben.

Das sei die reine Tätigkeit unseres Geistes. Das Leben des Geistes ist anders als das Leben unserer Organe oder Leidenschaften ganz von unserem Willen abhängig. Ich kann nicht den Herzschlag willentlich aus – und einsetzen, aber ich kann mein Denken willentlich einsetzen. Ich kann sagen: Jetzt phantasiere ich mir ein grünes Haus mit einem gelben Dach und es geschieht in meiner inneren Bilderwelt. Arendt schreibt: „Die einzige Äußerung des Geistes ist die Geistesabwesenheit, das offenbare Ignorieren der Umwelt, etwas völlig Negatives, das in keiner Weise darauf hindeutet, was tatsächlich in unserem Inneren vorgeht...Kein geistiger Akt und am wenigsten das Denken begnügt sich mit einem Gegenstand, wie er ihm gegeben ist. Es transzendiert ständig das Gegebensein“.

Es ist ein Experiment mit sich selbst. Das besonderes Kennzeichen für ein geistiges Erleben ist, dass es ein Leben mit sich selbst ist. Geistig erlebende Menschen brauchen daher auch das Alleinseinsein mit sich, das Beschäftigen mit sich selbst.

In Kulturen, in denen das Alleinsein mit Einsamkeit gleichgesetzt wird, also mit Alleingelassenwerden von anderen, haben es Menschen schwierig Ruhe für sich selbst zu finden. Die Griechen nannten das Muse. Muse war vor 2500 Jahren der größte Luxus, den sich die Menschen vorstellen konnten. Nichtstun war nicht mit Faulheit gleichgesetzt, sondern mit Zeit für Kontemplation, Denken – als Leben des Geistes.

Ohne diese Möglichkeit, sich von den Geschäften des Alltags zurückzuziehen und einmal ganz mit sich allein zu sein, ist ein lebendiges geistiges Leben nicht möglich.

Ein verantwortliches Leben braucht nach Hannah Arendt Denkerleben, Zeit mit sich selbst, damit überhaupt ein Innenleben entsteht; eine bewusste und kultivierte Innerlichkeit.

Menschen, die nach dem funktionieren, was von außen vorgegeben wird, bauen keine Innerlichkeit auf. Sie sind wie Phantome und brauchen ständig äußere Anweisungen. Hannah Arendt schwebte ein neues Menschenbild am Ende ihres Lebens vor. Sie wünschte sich überall geistig aktive Menschen. Und das hat nichts mit Dummheit, Klugheit, Bildung oder Wissen zu tun, sondern mit dem Willen auch einmal mit sich selbst  etwas zu erleben, ganz im Inneren, unbeobachtbar für andere. Diese innere Freiheit sei es, die wir leicht vergessen, weil wir sie nicht kultiviert haben. Sie schreibt: Alles Denken verlangt ein Innehalten, es ist die Suche nach Sinn inmitten aller Erfahrung.

Und wer Sinnlosigkeit im Leben beklagt, soll inne halten, bei sich ankommen, mit sich sein. Dann entsteht neuer Sinn.