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Leiblichkeit - Eine ethische Herausforderung im 3.Jahrtausend

newsletter WHC Women Health Coalition Nr 1. Berlin 2000 Seite 6    

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Die europäische philosophische Kultur ist jetzt etwa 2500 Jahre alt. Sie wurzelte in der Grundüberzeugung von Sokrates und Platon: "Der Körper ist das Gefängnis der Seele". Auch aus diesem Grund galt seinerzeit ein asketisches und damit "leibfeindliches" Leben als ein erstrebenswertes, philosophisch-ethisches Leben. Das Christentum verstärkte diese Grundthese vorn Leben in der Spaltung von Geist und Körper weiterhin zu Ungunsten des Körperlichen. Was uns körperlich Lust bereitete, galt lange als Sünde.

Zwar hat sich diese Einstellung in den vergangenen 100 Jahren im europäisch-amerikanischen Kulturraum gelockert. Es zeichnet sich allerdings ab, dass diese Lockerung in eine Umkehrung der Werte mündet: Körperkult ist derzeit gefragt. Sex, so heißt es überall, sei ebenso gesund wie ein Fitnesstraining. Und der schön gestylte Körper gilt als erstrebenswertes Ideal. Wer dick ist, wird dagegen wie eine unmoralische Person behandelt, die der Sünde der Abweichung von der Körpernorm verfallen ist. Schöne superschlanke, fast androgyne Frauenkörper und makellose, geschmeidig muskulöse Mannsbilder sind die Statussymbole der wohlhabenden und erfolgreichen Gesellschaft.

Doch wie passt Krankheit und Alterwerden in diese Welt des Körperkultes? Krankheit wird immer noch wie im Mittelalter als Strafe erlebt. Warum gerade ich? Habe ich falsch gelebt? Ist es, weil ich zu wenig liebte? Oder, weil ich zu viel liebte? Ist Krankheit die Strafe für etwas Böses, was ich getan habe? Welche Schuld habe ich auf mich geladen? Das Schuldprinzip so ist schnell zu erkennen bestimmt noch immer unsere Krankheitsmoral.

Alterwerden gilt nicht wie bis vor 100 Jahren als Zuwachs von Reife und Wissen. Älterwerden wird heutzutage mit Ausgrenzung aus dem Angebot der Vergnügungen bestraft. Dort aber ist nur eine ganz bestimmte Körperlichkeit gefragt:

Der störungslose, stets sexbereite, jugendlich androgyne Körper, der nach allen Richtungen biegsam ist der Körper ohne Müdigkeit und ohne Sehnsucht nach Ruhe und innerem Leben. Doch wir sollten uns fragen: ist das die Freiheit von den alten körperfeindlichen Zwängen, die sich die Mütter und Väter der Reformbewegungen vor 100 Jahren ersehnt haben? Wird am Ende der kontrolliert funktionierende Mensch aus der Gen-Retorte kommen? Menschen als allzeit frischzellenbetankte Körpermaschinen?

Als Ethikerin frage ich nicht danach, was aller Wahrscheinlichkeit nach sein wird, wenn ich die Gegenwart hochrechne. Ich frage, was ich will, das sein soll. Ich frage nach Visionen und Wünschen danach, wie wir leben wollen, nicht wie wir leben sollen. Die perfektionierte Körperlichkeit ist nur die eine Seite des dualistischen Weltbildes. In einer neuen Ethik des dritten Jahrtausends sollte es um ein "Dazwischen" gehen, um ein Leben, das Geist und Körper als gleichwertiges Ineinander verstehen lernt. Es geht dabei um die Entwicklung eines neuen "Leibsinnes" für ein bewussteres Lebendigsein. Ein Lebendigsein, in dem Kranksein integriert ist und Älterwerden eigene Schönheiten hervorbringt. Ein Lebendigsein, in dem es Freude macht, als Frau in dieser Welt zu existieren, gleich wie immer eine Frau ihr Frausein definiert.

Was aber ist mit "Leiblichkeit" gemeint? Der Philosoph Theodor W. Adorno meinte angesichts des Nazifaschismus: "Wir können noch so sehr unseren Körper ertüchtigen, wir werden unseren Leib nie mehr erreichen". In einer leibphilosophischen Ethik des neuen Jahrtausends wird es darum gehen, unseren "Leib" dennoch zu erreichen. Wie? Darum geht es!
Annegret Stopczyk, Philosophin, Ethikerin