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Aus: Erotik und Altruismus, in: Kultur- und Zeitfragen, hg. Louis Satow, Leipzig 1924, Heft 15

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                              I. Liebe und Krieg

Wer sich die eben verflossenen zehn Jahre vergegenwärtigt, von Blut und Grauen erfüllt, wie wohl niemals eine Zeit in der Geschichte der Menschheit vorher, den überfällt — den Kühnsten, Hoffnungsfreudigsten selbst — eine tiefe Skepsis. Dürfen wir wirklich schon von einer "Liebe" im höchsten Sinne reden; wo die Gegenwart, die jüngste Vergangenheit so ganz ohne Liebe in ihrem letzten, idealsten Sinne scheint? Dürfen wir wirklich in der Zukunft auf eine Höherentwicklung menschlichen Wesens und Handelns hoffen, solange das höchste jener Gefühle, das den Menschen auf die letzte Stufe seiner Entwicklung heben soll — die Liebe—, noch gar keine Vergangenheit und Gegenwart zu haben scheint, solange Haß  in der ganzen Welt triumphiert?

Die letzten Julitage des Sommers 1914 waren für einige Wenige Schicksalstage, die das Leben, die Erkenntnis der Welt, der Menschen, der Liebe, in zwei einander völlig fremde Epochen geschieden haben. Nicht nur in jenem allgemeinen Sinne, in dem es für die Mehrzahl der Menschen geschah: daß sie eben die Zeit vor dem Weltkrieg und die Kriegszeit selber voneinander trennten. Nein, in jenem selteneren Sinne auch, daß wir in jenen Tagen nie fur Möglichgehaltenes mit innerster Erschütterung Wirklichkeit werden sahen: daß die Menschheit den Krieg, den Menschenmord — im Fall des "Sichangegriffenfühlens"- und das taten bekanntlich damals alle Völker - noch mit

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innerer Zustimmung und gutem Gewissen begrüßte! Es war, als habe sich ein Abgrund aufgetan, der alles das zu verschlingen schien, was bis dahin als menschliche Kultur galt. Wie einem Nachtwandler, der mit unheimlicher Sicherheit auf den höchsten Zinnen und Spitzen wandelt und der, unerwartet angerufen, dann plötzlich zerschmettert zu Boden stürzt — so war uns in jenen Tagen zumut. Als Vermessenheit, unreife, törichte Vermessenheit, erschien, wofür das Leben zu leben, trotz aller, nein, gerade w e g e n seiner Kämpfe und Hemmungen bisher gelohnt hatte! Die Grundlagen menschlicher Gesittung hatte man längst festgelegt geglaubt: "Nicht töten", "Nicht rauben", "Nicht verleumden" — Kinderfibelweisheit, nur manchmal durch einige bedauernswerte Entartete noch nicht erfüllt, gegen welche die menschliche Gesellschaft sich dann, so gut es ging, zu schützen suchen mußte. Das Militärwesen moderner Kulturstaaten schien von dieser Weltanschauung aus — eine überflüssige atavistische Erscheinung vergangener barbarischer Zeit, wie Nietzsche so wundervoll-gelassen, überlegen in seinen Schriften (siehe Nachlaßbände) es charakterisiert. Unter diesen Umständen hatte man wohl bis zum Kriege glauben können, alle Willens- und Seelenkraft darauf verwenden zu dürfen —. da zugleich in allen Ländern beruhigend machtvolle, starke Männerparteien für die Abstellung der noch vorhandenen sozialen Mißstände wirkten, — jene Bezirke menschlichen Lebens zu verschönen, die am Ende der besonderen Aufgabe der Frau anvertraut scheinen: der Liebe, Ehe und Elternschaft, der Höherentwicklung, der Gattung. Wem das Schönste an der neuen, freiheitlichen Entwicklung des weiblichen Geschlechts schien, daß die Frau nun, geistig gereift und seelisch bereichert,

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ihrer Gattungsaufgabe auf einer höheren Stufe und in einem tieferen Sinn als bisher gerecht werden konnte, wer von früh auf Problem und Ziel der weiblichen Persönlichkeit darin erblickte, geistig produktive Persönlichkeit. Liebende Frau, beglückte Mutter zugleich zu sein – der hatte bis zu jener Schicksalsstunde wohl eine Aufgabe vor sich, die das Leben lohnte. Für jene letzten Verfeinerungen und Erhöhungen menschlichen Daseins zu wirken, sie immer wieder kenntlich und begehrenswert zu machen, die gleich weit ab lagen von frivoler brutaler Genußgier, wie von roher, seelenverhärtender Askese, — das waren Ziele, die es vergessen lassen konnten, daß auch an solche Bemühungen das Mißverstehen anders gearteter Naturen unwiderruflich geknüpft ist. Das waren Wirkensmöglichkeiten, die überwinden ließen, daß hier und dort jenes ‚‚Mißverstehen" aus innerster Notwendigkeit zu scharfen Zusammenstößen im theoretischen Kampf, wir hart im Raume führen mußte. Was wollten solche Hemmungen bedeuten gegenüber jenem hohen Ziel, das voll leuchtend wie eine glühende Abendsonne am Horizont stand und alles Leben, alles tägliche Mühen und Sorgen mit seinem warmen Glanze übergoß? So daß auch in müden Augenblicken, in Zeiten der Ermattung das Bewußtsein nie ganz verloren gehen konnte: "Wie es auch sei, das Leben : es ist gut!‘‘ Wo man den frohen, heute als töricht erkannten Glauben haben konnte : es genüge ein wenig guter Wille, ein wenig Aufklärung, Änderung noch ungeschickter, unzureichender Gesetze und Verordnungen um eigentlich fast allen Menschen jenes höchste Glück inniger Liebesgemeinschaft, aufwärtsgerichteter Entwicklung, blühender Kinder, tiefster innerer Harmonie zu schenken.

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Wie wenn plötzlich ein Abgrund der Hölle vor einem träumend in blühender, reifender Sommerwelt Schreitenden sich auftut, so war jenes furchtbare Erwachen zur Wirklichkeit der menschlichen Natur. Unfaßlich: nächste Freunde, Geliebte, Mitkämpfer, verehrte Greise und Greisinnen, zarte Frauen, idealistische Jünglinge, hochkultivierte Männer, Sozialreformer, Politiker, Künstler, Gelehrte, alle, alle fortgerissen in jenen blutigen Mordrausch, der plötzlich Menschenmord, Vernichtung blühenden, menschlichen Lebens als selbstverständlich bejahte. Mörder —lusterfüllte, bei "Siegesnachrichten" "jubelnde" Mörder — sie alle!! An wen man sich im ersten Entsetzen noch klammerte, auf ihn selbstverständlich als Ausnahme von jener wüsten Verrohung gehofft hatte, — eine Stütze nach der anderen brach zusammen. Kein Stand, kein Geschlecht, kein Altem, keine Bildung, keine Nationalität, keine Rasse, keine Partei — nirgends ein absolut sicherer Schutz vor jener moral-insanity, die die ganze Welt in ein großes moralisches Irrenhaus verwandelte. Und die ganz, ganz Wenigen, die dachten und fühlten, wie — nun, wie man vorher die ganze normale gesunde Menschheit fühlend glaubte, — die waren so vereinzelt und verschüchtert ob ihres .‚Andersseins‘‘ und "Andersfühlens‘‘, daß sie sich kaum zu ihrem eigenen Fühlen zu bekennen trauten.

Was an Schilderungen der Mordorgien dann zum Ausdruck kam in jener fluchwürdigen Institution : einer unter militärischer Aufsicht stehenden Presse — welche himmelhohen Berge intellektueller Beschränktheit, seelischer Erbarmungslosigkeit, welche schauerlichen Tiefen unnennbarer Hoheit offenbarten sich uns da! Daß die Menschheit nicht ein Ekel gepackt hat vor ihrer eigenen Unmenschlichkeit, daß sie es ertrug, Tag um Tag, Monat um Monat,

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Jahr um Jahr m diesem Meer von Blut zu waten! Zum Verzweifeln unfaßlich war es, wie die Staatsmänner der verschiedenen Länder sich zierten und zögerten, irgendein Wort von "Frieden" und Friedenswillen zu sprechen — obwohl doch jeder Tag dieses Zögerns hunderte, tausende wieder zu Leichen, zu Krüppeln, zu Mördern machte! Was waren denn das für Wesen, diese Staatsmänner"?! Was für grausame Götzen einer fremden, furchtbaren Welt über unserer einfachen, natürlichen Menschenwelt, daß sie mit Menschenleben fühllos, wie mit Kugeln im Kegelspiel, umgehen durften?! Ohne daß die Betroffenen, die zu wertlosem Plunder wurden, den man fortwirft, daran dachten, ihr Recht aufs Leben gegen diese Unmenschen zu verteidigen?

Moralischer Irrsinn, eine höllische Unterwelt der Qual und Zerstörung — war das Leben dieser Jahre.

Es scheint auch heute noch nicht klar, was entsetzlicher, zerstörender, entwürdigender ist für den Glauben an den Menschen: die naive, kalte Brutalität jener menschenverachtenden Staatsmänner und Feldherren, oder die feige, unterwürfige Geduld, mit der die Masse der Menschen es trug, selbst in den Kot gestampft zu werden, oder ihre geliebtesten Menschen dem Höllenrachen des Mordens und Gemordetwerdens ausgeliefert zu sehen. Die Wenigen, die dagegen aufbegehrten, wurden freilich gar bald zur Ruhe gebracht — mit Verboten und Strafen aller Art ‚ in Gefängnissen und Zuchthäusern oder auch im Grabe.

Aber in all denn Entsetzen dieser Jahre blieb eine große leuchtende Hoffnung: allen jenen, die - zu ihrem eigenen Unheil fast — nicht moralisch taub und blind wurden in dieser Zeit: die, während allen dieser blutige Schleier umnebelnd vor den Augen hing, hell und klar das Blau des

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Himmels sahen und das vergossene Blut, das, wie alles von Menschen vergossene Blut, zum Himmel schreit,—ihnen blieb in jener entsetzensvollen, ruchlosen Zeit doch e i n e Hoffnung. Irgendwann einmal mußte dies Morden, dieser "Krieg", wie man leider noch unehrlich schönfärbend dies Morden im Großen nennt, zu Ende sein, — es mußte der "Frieden" kommen. Alle Staatsmänner, alle Feldherren, alle Soldaten sagten ja, daß sie ihr blutiges Gewerbe, jene teuflische Kunst des tausendfachen Tötens nur übten, um sobald als möglich zu diesem "nicht mehr töten zu müssen" zu gelangen. Aber dann—dann würde, müßte endlich zum Ausdruck gelangen, daß alle, nahezu alle dies Entsetzliche nur unter dem ungeheuren Druck der Gewalt, der Sorge, anderenfalls selbst getötet zu werden, mit Abscheu geduldet hatten, —daß nur eine falsche, schlechte, ungeschickte Organisation der Menschheit es gewesen, die es ermöglichte, daß 99 von 100 Menschen tun mußten, was vielleicht ein einziger Entarteter gewollt hatte. Künftig würde eben geschehen was diese 99 noch nicht unmenschlich Gewordenen für gut und richtig hielten. -

Als dann der Tag kann, der jenes alte, fluchwürdige System der organisierten, erzwungenen Menschentötung, das alle wahre, menschliche Liebe unmöglich macht, zu vernichten schien welch tiefe, lebenspendende Hoffnung erfüllte da unsere Herzen! Nun konnte doch noch ein Sinn in dein furchtbaren Geschehen dieser mörderischen Jahre liegen: die Menschheit hatte über diese Selbstvernichtung hinüber, durch sie hindurchgehen müssen, um das Heillose dieses gegenseitigen Hasses zu erkennen, um zu begreifen, daß sie nur in der Anerkennung ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, ihrer gegenseitigen Verbundenheit

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sich erhalten könne. Um zu verstehen, daß jede Äußerung von Haß und Feindschaft — Selbstvernichtung, jede Erkenntnis, jedes Gefühl der Sympathie und Liebe Selbsterhaltung, Selbstbereicherung war.

Aber nun erst — in diesem Jahr der ersehnten Befreiung, der Möglichkeit des heiligen "Friedens" — begann die eigentliche Tragödie der Menschheit sich zu offenbaren. Auch unter denen, die das alte System — das Menschen zwangsweise, hunderttausendweise, millionenweise zu Mördern und Erschlagenen macht — mit Recht bekämpften, finden sich zahlreiche noch so angesteckt von jenem Geist blutiger Gewalt, von Banquos Mördergeist, daß auch sie nichts Besseres wissen in ihrem Kampf gegen jenes Verruchte, als dieselben verruchten Mittel anzuwenden. Wie es ja schon beklagenswerte Selbsttäuschung war, wenn im Kampf gegen dies System während des Krieges Wilson und seine Soldaten die blutigen Mittel des Krieges gebrauchen zu dürfen glaubten, des Krieges, den Wilson selber so — mit Recht — verdammt hatte.

Und so kam denn, was wir— als trauriges niederdrückendes Zerrbild wahren Friedens, rechter Befreiung — heute vor uns sehen: der Friedensbringer Wilson, der den dauernden Frieden bringen wollte, hat durch den Gebrauch jener Kriegsmittel sich selbst um die Möglichkeit. gebracht, sein Ideal zu verwirklichen, hat durch sein Mittun im Kriege selbst die Geister gegen sich wachgerufen, die er dann nicht mehr überwinden konnte. Und ebenso steht es nun mit jenen Kämpfern für eine neue bessere Gesellschaftsordnung, die im Kampf gegen jene alte böse, verderbte Welt sich verführen lassen, deren böse, verderbte Mittel des Hasses, der Menschenverfolgung und Tötung selber zu benutzen. Sie sehen nicht, daß wir nur dadurch zu einer

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höheren, menschlichen Gemeinschaft gelangen, wenn wir selber in jedem Augenblick besser, edler, hochherziger sind und handeln, als jene, die wir bekämpfen. Nicht nur unede1 ist es, ebenso zu handeln, wie jene, die uns bekämpfen, es ist auch unklug. Denn jene Verteidiger der Vergangenheit, deren alte Weltanschauung auf Menschenverachtung, Menschenmißhandlung von vornherein beruht, müssen im Gebrauch jener Blutmittel den anderen, die sie "nur notgedrungen" benutzen zu müssen glauben, immer überlegen bleiben. Daher schafft eine einzige Untat — auf Seiten der Kämpfer für das Neue, Bessere begangen — den Vertretern des Alten verhängnisvolle Vorwände, später, wenn einmal die Macht wieder wechseln sollte, mit noch unsäglich vermehrter unmenschlicherer Härte, jeden Versuch, neue, von Gewalt und Blut befreite Zustände zu schaffen, für ewig in Gewalt und Blut zu ersticken, — wie wir es z. B. 1870 bei der Niederwerfung der Kommune in Paris, in Finnland, in Ungarn und überall sonst auf der Welt sehen. Nein, so kommen wir, so kommt die Menschheit niemals aus dem Blutmeer heraus. Wir müssen versuchen, mit radikal anderen Mitteln, auf völlig gewaltlosem Wege jene bessere Welt zu schaffen, die wir ersehnen. Wir müssen Mittel finden des Geistes, Waffen der Güte, uns ganz von Grund aus, in unserem innersten Wesen von jener alten unheilbringenden Welt zu unterscheiden, sie bei uns, in uns selbst zunächst, gänzlich auszulöschen, zu vernichten. Mittel, an die jene mit ihren plumpen Waffen der Kanonen und Handgranaten niemals heranreichen können — Geisteskräfte, Gemütsbetätigungen, die sie niemals überwinden können.

Sicher, man darf sich keine Illusionen darüber machen, daß der Weg des Geistes, der Güte — der Gewalt gegen-

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über — ein mühseliger, langsamer ist. Und doch der einzige, der wahrhaft, sicher zum Ziel führen kann. Nur durch dies ganz persönliche Verantwortungsgefühl jedes einzelnen unter uns, der blutigen Gewalt unseren Dienst zu verweigern, in jeder Art verweigern müssen - werden wir jenen furchtbaren Götzendienst allmählich erschüttern eine Bresche in die Mauer dieses grauenvollen Aberglaubens des erlaubten Menschenmordens schlagen. Der seit Anbeginn der menschlichen Gemeinschaft als das größte Verbrechen instinktiv erkannt wurde, wie die biblisch legende von der Tötung Abels durch Kain lehrt, und dennoch unter allen möglichen Verkleidungen und Verhüllungen — als nationales Verdienst sogar — sich bis heute zu behaupten gewußt hat. -

So sind denn heute in allen Ländern unsere einzige Hoffnung diejenigen, die sich in dieser Erkenntnis mit uns begegnen: die wissen, daß man das Böse nur durch das Gute, die Gewalt nur durch Geist und Güte allmählich überwinden kann.

Unendlich opferreich wird auch dieser Weg sein, darüber geben wir uns keiner Täuschung hin; unzählige kostbare Menschenleben werden dem Unverständnis der Gewaltanbeter zum Opfer fallen: Aber es gibt keinen anderen Weg: Gewalt gegen Gewalt zu setzen, fordert auch entsetzliche, noch grauenvollere Opfer, wie der Krieg mit seinen zwölf Millionen Toten bewiesen hat, und zerstört zugleich die Reinheit der neuen Ziele, verdirbt alle Menschen, die die Gewalt selber zur Anwendung bringen "müssen" — zu ihrem eigenen Kummer, wie sie behaupten —‚ vernichtet im Keime schon die höhere Welt der Liebe, die von uns allen ersehnt wird, die gebaut werden soll.

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Und in dieser Welt, die noch so ganz erfüllt ist von Haß und Vernichtungswut, in der jetzt die verschiedenen Klassen in allen Ländern sich mit derselben tödlichen Feindschaft gegenüberstehen wie vorher die Nationen, in dieser Welt. soll eine Verfeinerung der Liebe der Geschlechter schon möglich und denkbar sein? Eine Welt, in der Menschen erbarmungsloser, roher, scheußlicher gegeneinander handeln, als je wilde Tiere gegeneinander handeln können, denen ja die Vernunft, die Einsicht in ihr Handeln fehlt, so daß es eine völlig unberechtigte Beleidigung der vierfüßigen und geflügelten Mitbewohner unseres Planeten ist, rohes menschliches Handeln als tierisch zu bezeichnen. Vielmehr ist die tiefe Bitterkeit des Menschenverächters Swift zu begreifen, der im fünften Kapitel von "Gullivers Reisen" die Pferde die grimmigste Kritik an dem verächtlichen Wahnsinn des Krieges üben läßt, den die Menschen aus den sinnlosesten Ursachen gegenseitig übereinander heraufbeschwören. Die Tiere haben in der Tat allen Grund, jeden Vergleich mit unserem menschlich-unmenschlichen Handeln als unter ihrer Würde abzulehnen.

Aber inzwischen geht das Leben weiter, und, so befremdend es im Grunde auch sein mag: es gibt große breite Massen, die diese Erschütterung des frohen Glaubens an die menschliche Entwicklung innerlich gar nicht erlebt haben, die atmen und wirken, als sei diese Zerstörung unseres Planeten, diese Weltkatastrophe überhaupt gar nicht vorhanden. Denen jede tiefere Anteilnahme am Weltgeschehen fehlt. So müssen wir erkennen: mit unendlich langen Zeitträumen werden wir rechnen müssen, um einen radikalen Umschwung in der menschlichen Psyche von jenen Raub- und Mordinstinkten zu edleren

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Gefühlen erwarten zu können. Inzwischen aber hebt neben diesem Inferno des Todes und des Tötens der Reigen des Lebens, des zeugenden, schöpferischen, beglückenden Sichverbindens und Ineinanderverschlingens stärker als vorher an, den auch die Schlachten des Todes nicht ganz unterdrücken konnten. Aus der Welt des Todes, des Tötens, die unwidersprochen bisher der Mann beherrscht und aufrecht erhält, suchen wir nun den Weg zu finden in die Welt des Lebens, der Heilighaltung des Lebens, die ohne die Frau nicht einmal gedacht werden kann.

Gewiß, auch während des Krieges "stand um Frankreich willen kein Brautbett öd‘ und leer". Aber dank der Verrohung der menschlichen Art in diesen Jahren wahrer Schmach und Schande, die wir durchlebten, ist wohJ keine Verfeinerung, keine tiefere Beglückung möglich gewesen.

Tiefer als jemals vorher aber vermögen wir jetzt zu erkennen: wie eng Tod und Leben, Töten und - Zeugen, Völkerhaß und Geschlechtsliebe ineinander verschlungen sind. Vergessen wir nicht: die Entwicklung der Liebe, die Zukunft der persönlichen, individuellen Liebe ist untrennbar mit dem Gang der allgemeinen Entwicklung verbunden. Daher ist es eine unablösliche Pflicht, am Gesamtbau der menschlichen Entwicklung, der physischen wie der geistig-moralischen, menschlichen Gemeinschaft mit zu wirken, wenn wir eine höhere Blüte der individuellen Liebe zwischen Mann und Weib erhoffen, ersehen.

Gerade angesichts der Qual und Zerrissenheit der Gegenwart blüht, so gestört und verzerrt in Millionen Leben auch immer der glückliche Ablauf der erotischen Verbindung sein mag, tausendfach in jungen wie reifen Menschen die Sehnsucht nach dem Paradies zu Zweien, dem

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Andern, einem Menschen, in dem sie sich spiegeln und reifen, sich besser wiederfinden und zugleich die Sehnsucht nach einem ruhenden Pol in dem Wirrsal stillen können. Und doch zeigt jeder eingehendere Blick auf die Masse der Menschen, wie verzerrt und entstellt die Mehrzahl der sexuellen Beziehungen noch ist; wie durch diese Jahre gewaltsamer Trennung, der Gesetzlosigkeit, Erbarmungslosigkeit, wohl die Zahl der neu einander in die Arme taumelnden Paare sich vermehrt haben mag. Der von der Heimat, von der Geliebten oder Gattin losgerissene Kämpfer draußen im fremden Land – die verlassene einsame Frau in der Heimat – wieviel Irrtum, wieviel Zerwürfnis, wieviel Leid, - wie weit sind wir noch von edler Klärung, höchster Menschlichkeit, tieferem Verständnis entfernt!

So daß es sich wohl lohnt, einige Hauptprobleme tiefer zu betrachten. In der Hoffnung, daß hier vielleicht, wo jeder das Glück der Liebe, das Unglück des Hasses und des Unverständnisses am eigenen Leibe, an der eigenen Seele spürt, am ehesten noch die Vorkämpfer einer besseren Menschheit sich entwickeln können, die dann die Harmonie der eigenen Natur zwischen Seele und Sinnen wie mit dem geliebten Menschen auch über die Menschheit ausgebreitet sehen möchten und sich mit der Kraft der in sich einigen Persönlichkeit dafür einsetzen.